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Die Würde des Menschen ist unantastbar

 

Von Richard Potz (Biografie)

 

Die Forderung nach absoluter und universaler Geltung der Menschenrechte stößt an politische und kulturelle Grenzen. Es wird gelegentlich behauptet, dass Menschenrechte insbesondere in den islamisch geprägten Ländern, prinzipiell nicht dieselbe Geltung haben wie in westlichen. Muslime stehen heute vor dem Problem, dass sie sich einerseits der Tradition der Scharia verpflichtet fühlen, andererseits aber auch dem Menschenrechtsgedanken gerecht werden wollen. Eine pauschale Kontrastierung hier Menschenrechte, dort Islam schlägt fehl.

Das global gesehen wohl auffälligste Phänomen der Rechtsentwicklung seit dem 2. Weltkrieg ist die vergleichsweise schnelle Ausbreitung des Menschenrechtsgedankens. In einer Vielzahl von Grundrechtskatalogen in den verschiedensten sachlichen Zusammenhängen findet die Vorstellung von Freiheitsrechten im allgemeinen und dem Grundrecht der Religionsfreiheit im besonderen ihren Niederschlag. Diese Entwicklung zwingt nicht zuletzt auch die großen Religionsgemeinschaften weltweit zur Auseinandersetzung damit.

Die Wesensmerkmale der Menschenrechte

Es sind im wesentlichen sechs Aspekte, die das Wesen der Menschenrechte kennzeichnen: 1. Den Ausgangspunkt bildet die Würde des Menschen, die als unveräußerlich postuliert wird. Sie wurzelt in der jüdisch-christlichen Anthropologie der Gottesebenbildlichkeit und hat eine wesentliche Konkretisierung in der Kantschen Autonomie des Menschen gefunden. 2. Menschenrechte entspringen elementaren erlittenen Unrechtserfahrungen und sind historisch gewachsen. Sie haben daher als Negation der Negation von Menschenwürde immer Antwortcharakter. 3. Menschenrechte enthalten aber zugleich Ansprüche, die in die Zukunft weisen. Selbst in Staaten, in denen die Menschenrechte umfassend gewährleistet zu sein scheinen, verbleiben immer auch Defizite: Man denke nur an soziale Menschenrechtsforderungen in westlichen Staaten oder unsere gegenwärtige Asyldiskussion. 4. Historisch entstehen die Menschenrechte meist nicht als klare Rechtsnormen, sondern zunächst nur als politische Forderungen - so wie etwa die der Französischen Revolution nach "Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit". Die Verrechtlichungstendenz der Menschenrechte ist in weiterer Folge nicht mehr aufzuhalten. Eine Forderung nach Menschenrechten kann aufgrund ihrer Unbedingtheit nicht mehr beseitigt werden. Dies bedeutet aber auch, dass nicht alles und jedes zum Menschenrecht erhoben werden kann bzw. erhoben werden sollte. 5. Menschenrechte erheben ferner universalen Geltungsanspruch. Es kann jedoch natürlich weder ihre tatsächliche universelle Geltung behauptet noch verlangt werden, dass die Menschenrechtsqualität von einer derartigen Geltung abhängig sei. Sonst müsste für ihre Geltung nach kleinsten gemeinsamen Nennern gesucht werden, die angesichts der desolaten Menschenrechtslage in vielen Staaten der Welt wesentliche und unverzichtbare Menschenrechtsforderungen aussparen würden. Dies soll jedoch nicht dazu führen, auf die Formulierung von minimalen Standards zu verzichten, die wenigstens zur Außerstreitstellung einzelner Menschenrechte führen kann. 6. Schließlich zielen Menschenrechte auf gesellschaftlichen und staatlichen Konsens. Es mag die Menschenwürde für den einen letztlich in der Gottesebenbildlichkeit, für den anderen als sittliches Postulat humanistisch begründet sein und für andere schlicht als vereinbarte Grundregel der Staatlichkeit nur als "positives Recht" gelten.

Entfaltung des Menschenrechtsgedankens durch Entwicklungen im lateinischen Westeuropa 

Ist die Forderung nach absoluter und universaler Geltung von Menschenrechten tatsächlich das Ergebnis einer geistigen Kolonialisierung im Stile des neuzeitlichen Eurozentrismus? Es steht wohl außer Zweifel, dass die Entfaltung des Menschenrechtsgedankens durch die spezifischen geistigen und gesellschaftlich-politischen Entwicklungen des lateinisch-westlichen Europa bedingt war und ist.

Im Mittelalter hatten weltliche und geistliche Herrscher dem Gottesreich zu dienen

Im Zuge der mittelalterlichen Auseinandersetzung von imperium und sacerdotium setzte die Entsakralisierung der weltlichen Gewalt ein. Um 1000 fasste man die Kirche als das christliche Volk auf, das von weltlichen und geistlichen Herrschern regiert wurde. Regnum und sacerdotium hatten also dem einen Gottesreich zu dienen, dessen vornehmste Aufgabe es war, den Glauben zu schützen und zu verbreiten. Dieses Gebilde unterscheidet sich in Anspruch und Begründung nur wenig von den beiden anderen zeitgleichen Imperien, dem byzantinischen Reich und dem islamischen Reich der Kalifen.

Papst Gregor VII trennte im 11. Jahrhundert weltliche und geistliche Gewalt

Dann geschieht aber etwas Revolutionäres, und der Revolutionär war ein Bischof von Rom, Papst Gregor VII. Der durch ihn ausgelöste Investiturstreit erschütterte die alte religiös-politische Einheitswelt des orbis christianus in ihren Fundamenten und setzte das neuzeitliche Paradigma, die Trennung von "geistlich" und "weltlich", frei. Ohne diesen Ausgangspunkt wäre die europäische Neuzeit und mit ihr die Geschichte der Menschenrechte nicht denkbar gewesen.

Politische Gesinnung anstelle der religiösen

Dieser Ablösungsprozess mündete in eine Übergangszeit, die in dem revolutionären Umbruch der Reformation endete. Der endgültige Zusammenbruch der alten Welt, tragisch erfahrbar in den Religionskriegen, führte zur Suche nach neuen Möglichkeiten der Sicherung des gesellschaftlichen Friedens. Mit Hilfe der religiösen Gesinnung war er jedoch nicht mehr herstellbar. Um dieses Ziel zu erreichen, unterwarf daher der Staat die religiöse Wahrheitsfrage der Staatsräson und postulierte vorerst noch die religiöse Einheit aus politischen Gründen. In dieser Phase versuchte der absolute Monarch noch eine objektive Ordnung aufrechtzuerhalten, bei der in der Art einer "imitatio Ecclesiae" die politische Gesinnung an die Stelle der religiösen treten sollte. Da die religiöse Gesinnung auf Dauer jedoch nicht eliminiert werden konnte, gebot die Staatsräson, sie auszuklammern.

Toleranz andersgläubiger Gemeinschaften aus wirtschaftlichen und religiös taktischen Gründen 

Das erste theoretische Konzept der Garantie eines religiösen Freiraumes, das auch praktisch-politisch umgesetzt wurde, war die Idee der religiösen Toleranz. Sie stellt einen wichtigen Ansatzpunkt dar, der auch heute noch von großer praktischer Bedeutung ist. Aber auch die Toleranzidee der Aufklärung und ihre Realisierung im aufgeklärten Absolutismus war nur ein weiterer Schritt in der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte und unterscheidet sich deutlich von der modernen Idee der Religionsfreiheit. Dieser Toleranzbegriff beruht vorerst noch auf dem Wahrheitsanspruch einer dominanten Kirche und auf einer strategischen Moral. Danach sind etwa Andersgläubige in katholischen Staaten zu dulden, um nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit die Duldung von katholischen Minderheiten in anderen Staaten zu sichern. Nicht die Überzeugung des einzelnen wurde zunächst toleriert, sondern aus wirtschaftlichen oder religiösen taktischen Gründen das Vorhandensein von andersgläubigen Gemeinschaften. Der einzelne gerät daher etwa im Rahmen der josephinischen Toleranz in den Genuss religiöser Freiheitsrechte nur dann, wenn er einer akzeptierten Konfession angehört.

Zusammenleben verschiedener Gruppen durch Religionsfreiheit 

Erst im Rahmen der grundrechtlichen Positivierungen der Religionsfreiheit sind die Voraussetzungen geschaffen, die im modernen Rechts- und Verfassungsstaat die Chance für ein gelungenes Zusammenleben unterschiedlicher religiöser bzw. weltanschaulicher Gruppierungen eröffnen. Es waren insbesondere die Erfahrungen des Totalitarismus und des 2. Weltkrieges, die zu einer Neukonzeption der Grundrechte und dem weltweiten Durchbruch bzw. der Internationalisierung der Menschenrechte führten. Diese Erfahrungen waren es auch, die Religionsfreiheit in den westlichen Verfassungsstaaten immer mehr zu einem Menschenrecht werden ließen, das die religiöse Dimension als einen Grundstatus menschlicher Befindlichkeit vorbehaltlos akzeptiert.

Trennung zwischen Staat und Kirche in Frankreich 

Diese neue Bewertung ließ aber auch den Laizismus französischen Zuschnitts immer mehr zum Anachronismus werden. Dies ist deshalb besonders hervorzuheben, da das Trennungssystem Frankreichs für die islamische Staatenwelt vielfach vorbildhaft wurde, beispielsweise in der Türkei, aber auch an den staatsrechtlichen Einfluss Frankreichs auf die frankophonen afrikanischen Staaten.

Laizismus in Frankreich gewährleistet heute Religions- und Kirchenfreiheit

Kennzeichen dieses Systems war ursprünglich der Laizismus, unter dem die Entlassung des Religiösen aus den umfassenden Staatszwecken des zentralisierten bürgerlichen Staates verstanden wird. Der bürgerliche Staat war unter anderem aus der Emanzipation von der mit dem Ancien Regime verknüpften religiös-kirchlichen Legitimation entstanden. Dies führte zur Eliminierung des Religiösen aus der Sphäre staatlicher Öffentlichkeit und damit auch zur Privatisierung des Religiösen. Aber dieser ursprüngliche französische Laizismus wandelte sich. Der Staat gewährleistet heute Religions-, aber auch korporative Kirchenfreiheit. Er übt wohlwollende Unparteilichkeit gegenüber allen Religions- und Weltanschauungsgruppen und privilegiert keine. Der pseudoreligiöse kirchenfeindliche Laizismus ist heute weitgehend von der religionsfreundlicheren akonfessionellen Laizität abgelöst worden, wenn auch einige laizistische Traditionen noch kräftige Lebenszeichen von sich geben, wie sich etwa in der Frage der Zulässigkeit des Kopftuchtragens muslimischer Schülerinnen an den öffentlichen Schulen in Frankreich deutlich zeigte.

Glaube kann Gedanken der Menschenrechte vertiefen

Wir sollten der für Europa geistesgeschichtlich so bedeutsamen Entfaltung der Religionsfreiheit am Ende des 20. Jahrhunderts besonderes Augenmerk schenken. Nicht mehr staatliche Toleranz, politischer Ausgleich zwischen institutionellen Größen und überkommene Privilegierung bestimmen das Verhältnis von Staat und Kirche, sondern die Garantie eines zentralen, unveräußerlichen Menschenrechtes. Damit bietet die spätneuzeitliche europäische Gesellschaft, wie keine Gesellschaft in der Geschichte zuvor, der religiösen Dimension eine Chance zur freien Entfaltung. Religion wird weder bekämpft noch aufgezwungen, weder vereinnahmt noch instrumentalisiert. Diese vom Staat verlangte Offenheit setzt allerdings auf Seiten der religiösen Gemeinschaften voraus, dass auch sie von sich aus bereit sind, die Säkularität des Staates zu akzeptieren. Religionen besitzen heute die große Chance, aus dem Glauben heraus wichtige Beiträge zu einer sinnvollen Kultur der Menschenrechte zu leisten. Ein Glaube, der dazu auffordert, für die Achtung der unbedingten Würde der menschlichen Person einzutreten, vermag in seiner Orientierung an der "Transzendenz der menschlichen Person" den Gedanken der Menschenrechte zu stimulieren und zu vertiefen. Persönlich bin ich davon überzeugt, dass vor allem davon in Zukunft die Glaubwürdigkeit von uns, sei es als Christen, sei es als Muslime, abhängen wird.

Katholische Kirche öffnet sich der Religionsfreiheit

Nach einer langen Phase des Sich Verschließens gegen die neuzeitliche Entwicklung von Grundrechten seitens der katholischen Kirche hat Leo XIII. zunächst das Toleranzprinzip des 18. Jahrhunderts konsequent auf die Duldung Andersgläubiger übertragen. Leo XIII. war es auch, der sich der Sache nach in seiner Soziallehre der Menschenrechtsidee erstmals zuwandte. Es ist bemerkenswert, dass die Kirche sich damit zuerst gegenüber den sozialen Grundrechten und erst später nach den Erfahrungen mit faschistischen und kommunistischen Unrechtssystemen - den politischen und liberalen Grundrechten öffnete.

Schritt zur Religionsfreiheit durch das Zweite Vatikanum 

Das Beharren auf dem Toleranzprinzip blieb für die päpstliche Lehre noch unter Pius XII. maßgebend, wie seine grundlegende Toleranzansprache vom 6. 12. 1953 zeigt. Erst durch "Pacem in terris" und das Religionsfreiheitsdekret des Zweiten Vatikanums wurde der entscheidende Schritt von der größere Übel vermeiden wollenden Toleranz zu der auf der Würde der menschlichen Person beruhenden Religionsfreiheit getan. Am Konzil hatte sich damit ein Anliegen amerikanischer Konzilsväter gegen vor allem aus Spanien kommende Bedenken durchgesetzt, es war im besonderen die positive amerikanische Erfahrung mit religionsfreundlichen Menschenrechtsgarantien, die den Anstoß zur Sicht des Zweiten Vatikanums gegeben hatte. Es geht nunmehr um ein Positivum, ein Seinsollendes, nicht um ein Negativum, das bloße Ertragen eines Nicht-sein-Sollenden. Damit wurde das reine Toleranzdenken, wie wir es vom aufgeklärten Absolutismus, von der vorkonziliaren päpstlichen Lehre, aber beispielsweise auch aus der islamischen Tradition kennen, überwunden.

Die katholische Kirche setzt sich bedingungslos für die Garantie der Religionsfreiheit ein

Die Sicherung der Religionsfreiheit als Menschenrecht ist ein zentrales Anliegen des gegenwärtigen Papstes und der Heilige Stuhl setzt sich im Rahmen seiner Tätigkeit bei internationalen Organisationen bedingungslos für die Garantie der Religionsfreiheit ein. Es ist allerdings nicht zu verkennen, dass hinsichtlich der Idee der Menschenrechte in kirchlichen Kreisen auch wieder alte Vorbehalte aufkommen. Dahinter steckt die Befürchtung, die Idee der Menschenrechte könnte sich in einer - wie man meint - nicht adäquaten Weise auch in der Kirche ausbreiten.

Christliche Anthropologie muss auch in der Kirche entfaltet werden

Ich möchte hier darauf hinweisen, dass das Bekenntnis zu der mit der Menschenwürde verbundenen Freiheit, zu so begründeten Menschenrechten im allgemeinen und der Religionsfreiheit im besonderen nicht auf den staatlichweltlichen Bereich reduziert bleiben darf. Es muss diese christliche Anthropologie auch in der Kirche entfaltet werden, und die kirchliche Ordnung muss ihr Rechnung tragen. Andernfalls entsteht der fatale Eindruck, dass die Kirche zwar inzwischen emphatisch für die Menschenrechte bzw. die Religionsfreiheit im weltlichen Bereich eintritt, sobald es aber um die Gestaltung des inneren kirchlichen Rechts geht, die Geltung von Grundrechten vielfach relativiert.

Kein Christ muss seine Freiheit an der Kirchentüre abgeben

Es geht nicht an, dass der Christ seine Freiheit an der Kirchentüre abgeben muss. Die in letzter Zeit wieder stärker artikulierte Scheidung der Sphären - Freiheit und Mitbestimmung in der weltlichen Ordnung, Unfreiheit, Gehorsam und Fremdbestimmung in der kirchlichen Ordnung - lässt sich weder theologisch begründen, noch verstärkt sie die Glaubwürdigkeit kirchlicher Appelle.

Islam zeigt Toleranz gegenüber Angehörigen der Buchreligionen

Aus seinem religiösen Selbstverständnis heraus hat der Islam bekanntlich bereits seit seinen Anfängen wenigstens gegenüber den Angehörigen der Buchreligionen eine tolerante Haltung eingenommen. In den entsprechenden Versen des Korans wird eine Entwicklung im Handeln Muhammeds deutlich, sein ursprünglicher Optimismus, seine spätere Enttäuschung über Christen und Juden, einzelne Ausfälle an Intoleranz sowie das abschließende Modell des dhimmi-Vertrages. Dazu drei Bemerkungen: 1. Diese Konstruktion stellte nichts Neues dar. Wir finden derartige Sonderregelungen für religiöse Minderheiten sowohl im Römischen Reich für Juden als auch im sassanidischen Recht für Juden und syrische Christen. Das von den christlichen römischen Kaisern entwickelte Sonderrecht für Juden geht von der Bedeutung der Juden als Volk des Alten Bundes aus und beruht damit auf den gleichen Überlegungen wie das islamische Recht. 2. Bei jedem Vergleich zwischen Christentum und Islam muss daher bedacht werden, dass für den Islam Judentum und Christentum auf dem Weg zur eigenen Offenbarung lagen. Für das Christentum dagegen musste der Islam als neue Häresie gelten. Ein Vergleich zwischen christlicher Toleranz gegenüber dem Islam und islamischer Toleranz gegenüber dem Christentum ist daher nur bedingt sinnvoll. 3. Trotzdem ist jedoch nicht zu übersehen, dass die große Zahl der Christen und Juden im islamischen Herrschaftsbereich weit weniger als Andersgläubige im christlichen Abendland rechtswidrigen Verfolgungen unterlag. Dadurch ergab sich ein höheres Maß an praktisch gelebter Toleranz im Islam, die bis weit in die Neuzeit hinein zu einem Mehr an Freiräumen für Juden und Christen führte. Diesen seinen historischen Vorsprung hat der Islam jedoch mit der Unfähigkeit, den Schritt von der Toleranz zu Menschenrechten zu vollziehen, verloren, und er gerät auf diese Weise in ein immer stärker werdendes Spannungsverhältnis mit globalen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen.

Islam muss Schritt von religiöser Toleranz zur Religionsfreiheit gehen

Solange der Islam den Schritt von der religiösen Toleranz zur Religionsfreiheit nicht macht, sind alle entsprechenden Ansätze in "Islamischen Menschenrechtserklärungen"', da sie den Boden der in der Scharia enthaltenen Toleranz für die Buchreligionen nicht verlassen, reine Alibihandlungen. Dies bedeutet andererseits aber nicht, dass der Islam die neuzeitliche Entwicklung Europas als einzigen Weg der Erneuerung nachvollziehen muss. Selbstverständlich besteht weder für die Mehrheit der islamischen Staaten noch für die anderen Länder außerhalb der westeuropäischen Tradition eine derartige Automatik. Um eine für die Konzeption von Menschenrechten notwendige Verhältnisbestimmung von Religion und Recht vorzunehmen, scheint es aus europäischer Sicht zunächst wichtig zu sein, eine Präzisierung des Begriffs "islamischer Staat" zu verlangen. Ausgangspunkt wäre, dass der Begriff des "islamischen Staates" als theoretischutopisches Regulativ betrachtet werden kann. Als solches fordert es zur permanenten Kritik an konkreten staatlich-politischen Realitäten auf, ist aber selbst geschichtlich nicht einlösbar.

Unmittelbar nach Mohammed wurde Glaubensüberzeugung vorbildlich gelebt

Dieses Konzept sollte sich durchaus mit einer konventionellen Deutung der islamischen Geschichte decken können, die als ein ständiges und vielfach tragisches Ringen um ein von religiöser Ethik inspiriertes soziales System verstanden werden kann. In der Zeit unmittelbar nach Mohammed ist bereits eine islamische Realität entstanden, die eben von den konkreten Sitten der damaligen Araber mitgeprägt war. Diese Realität wurde aber dann unter ausschließlich religiösen Gesichtspunkten gedeutet und gilt vielen als der reale Inbegriff des "islamischen Staates" (Zeit der vier rechtgeleiteten Kalifen). Diese Phase der islamischen Geschichte könnte nun durchaus als eine Zeit charakterisiert werden, in der Glaubensüberzeugung vorbildlich gelebt wurde, ohne dass sie mit dem "islamischen Staat" identifiziert wird.

Staat muss alle Bedingungen erfüllen, um islamische Lebensführung zu ermöglichen

Falls man die Gemeinschaft der Gläubigen und den Staat jedoch als wesensident ansieht, würde die religiöse Autorität ihre Bedeutung als kritische Instanz, als kritisches Korrektiv für die Politik verlieren. Sie würde einer ideologisch-legitimierenden Instrumentalisierung und Manipulierung verfallen. Der Staat, der daher gerade nicht der legitime Sprecher der Gemeinschaft der Gläubige sein darf, darf eine bestimmte Lebensführung nicht verpflichtend vorschreiben, und zwar weder für Muslime noch für Nichtmuslime. Er soll und muss hingegen alle Bedingungen erfüllen, die eine islamische Lebensführung seiner Staatsbürger ermöglichen.

Moderner Verfassungsstaat muss die Herausforderung annehmen

Für das Verhältnis des modernen Verfassungsstaates zum Islam bedeutet dies andererseits aber auch: Die Herausforderung, die u. a. durch den Islam und die zunehmende Wahrscheinlichkeit, dass Muslime auch in Zukunft in größerer Zahl unsere Mitbürger sein werden, für unsere Grundrechtsordnung besteht, muss aufgenommen werden.

Chance: Multikulturelle Integration der Muslime

Diese Situation ist auch als Chance zu sehen, auf diese Weise unser politisches System zu einer gerechteren Gesellschaft weiterzuentwickeln, in der nicht hinter allem, was gewachsenen Traditionen widerspricht, Rechtsgutgefährdungen gewittert werden dürfen. Das bedeutet, dass die Möglichkeit einer multikulturellen Integration der Muslime nicht von vornherein auszuschließen ist. Dass unser politisches System sich dadurch notwendig weiter in eine Richtung bewegt, die gerade von vielen islamistischen Muslimen, aber auch von Fundamentalisten aller Richtungen als eine der Fehlentwicklungen Europas bezeichnet wird, darf uns vom Ziel der Einlösung des Anspruches europäischer neuzeitlicher politischer Ordnung nicht abhalten. Zu dieser politischen Ordnung gehört es, dass es durch das religiöse Empfinden anderer bestimmte Grenzen für die Ausübung von Grundrechten gibt und dass der Staatbeispielsweise auch muslimischen Kindern im Rahmen der Schulbuchaktion den Koran zur Verfügung stellt. Zu den fundamentalen, vom Staat zu schützenden Grundrechten gehört aber ebenso das Recht, seinem bisherigen Bekenntnis den Rücken zu kehren.

Notwendigkeit zur Teilnahme an einem säkularen pluralistisch-demokratisch ausgerichteten System

Über ein Problem, mit dem sich unsere muslimischen Mitbürger, aber auch der Islam insgesamt auseinandersetzen müssen, darf sich niemand hinwegtäuschen. Dieses lautet: Wie wird der Islam mitgestaltende Kraft an einem säkularen pluralistisch-demokratisch ausgerichteten politischen System, in dem Religionsfreiheit einen konstitutionellen Grundstatus darstellt? Die Chance zu einer derartigen theologischen Aufarbeitung darf dem Islam nicht durch Ausgrenzung genommen werden. Er hat einen Anspruch darauf, sein definiertes Selbstverständnis einzubringen. Ob der Islam diese Möglichkeit nützt bzw. überhaupt von seinem Selbstverständnis her nützen kann, ist Sache des Islams.

 

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>> Die Wesensmerkmale der Menschenrechte

>> Entfaltung des Menschenrechtsgedankens durch Entwicklungen im lateinischen Westeuropa 

>> Im Mittelalter hatten weltliche und geistliche Herrscher dem Gottesreich zu dienen

>> Papst Gregor VII trennte im 11. Jahrhundert weltliche und geistliche Gewalt

>> Politische Gesinnung anstelle der religiösen

>> Toleranz andersgläubiger Gemeinschaften aus wirtschaftlichen und religiös taktischen Gründen 

>> Zusammenleben verschiedener Gruppen durch Religionsfreiheit 

>> Trennung zwischen Staat und Kirche in Frankreich 

>> Laizismus in Frankreich gewährleistet heute Religions- und Kirchenfreiheit

>> Glaube kann Gedanken der Menschenrechte vertiefen

>> Katholische Kirche öffnet sich der Religionsfreiheit

>> Schritt zur Religionsfreiheit durch das Zweite Vatikanum 

>> Die katholische Kirche setzt sich bedingungslos für die Garantie der Religionsfreiheit ein

>> Christliche Anthropologie muss auch in der Kirche entfaltet werden

>> Kein Christ muss seine Freiheit an der Kirchentüre abgeben

>> Islam zeigt Toleranz gegenüber Angehörigen der Buchreligionen

>> Islam muss Schritt von religiöser Toleranz zur Religionsfreiheit gehen

>> Unmittelbar nach Mohammed wurde Glaubensüberzeugung vorbildlich gelebt

>> Staat muss alle Bedingungen erfüllen, um islamische Lebensführung zu ermöglichen

>> Moderner Verfassungsstaat muss die Herausforderung annehmen

>> Chance: Multikulturelle Integration der Muslime

>> Notwendigkeit zur Teilnahme an einem säkularen pluralistisch-demokratisch ausgerichteten System

 
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