6.
Schließlich zielen Menschenrechte auf gesellschaftlichen und
staatlichen Konsens. Es mag die Menschenwürde für den einen
letztlich in der Gottesebenbildlichkeit, für den anderen als
sittliches Postulat humanistisch begründet sein und für andere
schlicht als vereinbarte Grundregel der Staatlichkeit nur als
"positives Recht" gelten.
Entfaltung des
Menschenrechtsgedankens durch Entwicklungen im lateinischen
Westeuropa
Ist die Forderung nach absoluter und universaler
Geltung von Menschenrechten tatsächlich das Ergebnis einer
geistigen Kolonialisierung im Stile des neuzeitlichen
Eurozentrismus? Es steht wohl außer Zweifel, dass die Entfaltung
des Menschenrechtsgedankens durch die spezifischen geistigen und
gesellschaftlich-politischen Entwicklungen des lateinisch-westlichen
Europa bedingt war und ist.
Im Mittelalter hatten weltliche
und geistliche Herrscher dem Gottesreich zu dienen
Im Zuge der mittelalterlichen Auseinandersetzung
von imperium und sacerdotium setzte die Entsakralisierung der
weltlichen Gewalt ein. Um 1000 fasste man die Kirche als das
christliche Volk auf, das von weltlichen und geistlichen Herrschern
regiert wurde. Regnum und sacerdotium hatten also dem einen
Gottesreich zu dienen, dessen vornehmste Aufgabe es war, den Glauben
zu schützen und zu verbreiten. Dieses Gebilde unterscheidet sich in
Anspruch und Begründung nur wenig von den beiden anderen
zeitgleichen Imperien, dem byzantinischen Reich und dem islamischen
Reich der Kalifen.
Papst Gregor VII trennte im 11.
Jahrhundert weltliche und geistliche Gewalt
Dann geschieht aber etwas Revolutionäres, und
der Revolutionär war ein Bischof von Rom, Papst Gregor VII. Der
durch ihn ausgelöste Investiturstreit erschütterte die alte
religiös-politische Einheitswelt des orbis christianus in ihren
Fundamenten und setzte das neuzeitliche Paradigma, die Trennung von
"geistlich" und "weltlich", frei. Ohne diesen
Ausgangspunkt wäre die europäische Neuzeit und mit ihr die
Geschichte der Menschenrechte nicht denkbar gewesen.
Politische Gesinnung anstelle
der religiösen
Dieser Ablösungsprozess mündete in eine
Übergangszeit, die in dem revolutionären Umbruch der Reformation
endete. Der endgültige Zusammenbruch der alten Welt, tragisch
erfahrbar in den Religionskriegen, führte zur Suche nach neuen
Möglichkeiten der Sicherung des gesellschaftlichen Friedens. Mit
Hilfe der religiösen Gesinnung war er jedoch nicht mehr
herstellbar. Um dieses Ziel zu erreichen, unterwarf daher der Staat
die religiöse Wahrheitsfrage der Staatsräson und postulierte
vorerst noch die religiöse Einheit aus politischen Gründen. In
dieser Phase versuchte der absolute Monarch noch eine objektive
Ordnung aufrechtzuerhalten, bei der in der Art einer "imitatio
Ecclesiae" die politische Gesinnung an die Stelle der
religiösen treten sollte. Da die religiöse Gesinnung auf Dauer
jedoch nicht eliminiert werden konnte, gebot die Staatsräson, sie
auszuklammern.
Toleranz andersgläubiger
Gemeinschaften aus wirtschaftlichen und religiös taktischen
Gründen
Das erste theoretische Konzept der Garantie eines
religiösen Freiraumes, das auch praktisch-politisch umgesetzt
wurde, war die Idee der religiösen Toleranz. Sie stellt einen
wichtigen Ansatzpunkt dar, der auch heute noch von großer
praktischer Bedeutung ist. Aber auch die Toleranzidee der
Aufklärung und ihre Realisierung im aufgeklärten Absolutismus war
nur ein weiterer Schritt in der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte
und unterscheidet sich deutlich von der modernen Idee der
Religionsfreiheit. Dieser Toleranzbegriff beruht vorerst noch auf
dem Wahrheitsanspruch einer dominanten Kirche und auf einer
strategischen Moral. Danach sind etwa Andersgläubige in
katholischen Staaten zu dulden, um nach dem Prinzip der
Gegenseitigkeit die Duldung von katholischen Minderheiten in anderen
Staaten zu sichern. Nicht die Überzeugung des einzelnen wurde
zunächst toleriert, sondern aus wirtschaftlichen oder religiösen
taktischen Gründen das Vorhandensein von andersgläubigen
Gemeinschaften. Der einzelne gerät daher etwa im Rahmen der
josephinischen Toleranz in den Genuss religiöser Freiheitsrechte
nur dann, wenn er einer akzeptierten Konfession angehört.
Zusammenleben verschiedener
Gruppen durch Religionsfreiheit
Erst im Rahmen der grundrechtlichen
Positivierungen der Religionsfreiheit sind die Voraussetzungen
geschaffen, die im modernen Rechts- und Verfassungsstaat die Chance
für ein gelungenes Zusammenleben unterschiedlicher religiöser bzw.
weltanschaulicher Gruppierungen eröffnen. Es waren insbesondere die
Erfahrungen des Totalitarismus und des 2. Weltkrieges, die zu einer
Neukonzeption der Grundrechte und dem weltweiten Durchbruch bzw. der
Internationalisierung der Menschenrechte führten. Diese Erfahrungen
waren es auch, die Religionsfreiheit in den westlichen
Verfassungsstaaten immer mehr zu einem Menschenrecht werden ließen,
das die religiöse Dimension als einen Grundstatus menschlicher
Befindlichkeit vorbehaltlos akzeptiert.
Trennung zwischen Staat und
Kirche in Frankreich
Diese neue Bewertung ließ aber auch den
Laizismus französischen Zuschnitts immer mehr zum Anachronismus
werden. Dies ist deshalb besonders hervorzuheben, da das
Trennungssystem Frankreichs für die islamische Staatenwelt vielfach
vorbildhaft wurde, beispielsweise in der Türkei, aber auch an den
staatsrechtlichen Einfluss Frankreichs auf die frankophonen
afrikanischen Staaten.
Laizismus in Frankreich
gewährleistet heute Religions- und Kirchenfreiheit
Kennzeichen dieses Systems war ursprünglich der
Laizismus, unter dem die Entlassung des Religiösen aus den
umfassenden Staatszwecken des zentralisierten bürgerlichen Staates
verstanden wird. Der bürgerliche Staat war unter anderem aus der
Emanzipation von der mit dem Ancien Regime verknüpften
religiös-kirchlichen Legitimation entstanden. Dies führte zur
Eliminierung des Religiösen aus der Sphäre staatlicher
Öffentlichkeit und damit auch zur Privatisierung des Religiösen.
Aber dieser ursprüngliche französische Laizismus wandelte sich.
Der Staat gewährleistet heute Religions-, aber auch korporative
Kirchenfreiheit. Er übt wohlwollende Unparteilichkeit gegenüber
allen Religions- und Weltanschauungsgruppen und privilegiert keine.
Der pseudoreligiöse kirchenfeindliche Laizismus ist heute
weitgehend von der religionsfreundlicheren akonfessionellen
Laizität abgelöst worden, wenn auch einige laizistische
Traditionen noch kräftige Lebenszeichen von sich geben, wie sich
etwa in der Frage der Zulässigkeit des Kopftuchtragens muslimischer
Schülerinnen an den öffentlichen Schulen in Frankreich deutlich
zeigte.
Glaube kann Gedanken der
Menschenrechte vertiefen
Wir sollten der für Europa geistesgeschichtlich
so bedeutsamen Entfaltung der Religionsfreiheit am Ende des 20.
Jahrhunderts besonderes Augenmerk schenken. Nicht mehr staatliche
Toleranz, politischer Ausgleich zwischen institutionellen Größen
und überkommene Privilegierung bestimmen das Verhältnis von Staat
und Kirche, sondern die Garantie eines zentralen, unveräußerlichen
Menschenrechtes. Damit bietet die spätneuzeitliche europäische
Gesellschaft, wie keine Gesellschaft in der Geschichte zuvor, der
religiösen Dimension eine Chance zur freien Entfaltung. Religion
wird weder bekämpft noch aufgezwungen, weder vereinnahmt noch
instrumentalisiert. Diese vom Staat verlangte Offenheit setzt
allerdings auf Seiten der religiösen Gemeinschaften voraus, dass
auch sie von sich aus bereit sind, die Säkularität des Staates zu
akzeptieren. Religionen besitzen heute die große Chance, aus dem
Glauben heraus wichtige Beiträge zu einer sinnvollen Kultur der
Menschenrechte zu leisten. Ein Glaube, der dazu auffordert, für die
Achtung der unbedingten Würde der menschlichen Person einzutreten,
vermag in seiner Orientierung an der "Transzendenz der
menschlichen Person" den Gedanken der Menschenrechte zu
stimulieren und zu vertiefen. Persönlich bin ich davon überzeugt,
dass vor allem davon in Zukunft die Glaubwürdigkeit von uns, sei es
als Christen, sei es als Muslime, abhängen wird.
Katholische Kirche öffnet sich
der Religionsfreiheit
Nach einer langen Phase des Sich Verschließens
gegen die neuzeitliche Entwicklung von Grundrechten seitens der
katholischen Kirche hat Leo XIII. zunächst das Toleranzprinzip des
18. Jahrhunderts konsequent auf die Duldung Andersgläubiger
übertragen. Leo XIII. war es auch, der sich der Sache nach in
seiner Soziallehre der Menschenrechtsidee erstmals zuwandte. Es ist
bemerkenswert, dass die Kirche sich damit zuerst gegenüber den
sozialen Grundrechten und erst später nach den Erfahrungen mit
faschistischen und kommunistischen Unrechtssystemen - den
politischen und liberalen Grundrechten öffnete.
Schritt zur Religionsfreiheit durch
das Zweite Vatikanum
Das Beharren auf dem Toleranzprinzip blieb für
die päpstliche Lehre noch unter Pius XII. maßgebend, wie seine
grundlegende Toleranzansprache vom 6. 12. 1953 zeigt. Erst durch
"Pacem in terris" und das Religionsfreiheitsdekret des
Zweiten Vatikanums wurde der entscheidende Schritt von der größere
Übel vermeiden wollenden Toleranz zu der auf der Würde der
menschlichen Person beruhenden Religionsfreiheit getan. Am Konzil
hatte sich damit ein Anliegen amerikanischer Konzilsväter gegen vor
allem aus Spanien kommende Bedenken durchgesetzt, es war im
besonderen die positive amerikanische Erfahrung mit
religionsfreundlichen Menschenrechtsgarantien, die den Anstoß zur
Sicht des Zweiten Vatikanums gegeben hatte. Es geht nunmehr um ein
Positivum, ein Seinsollendes, nicht um ein Negativum, das bloße
Ertragen eines Nicht-sein-Sollenden. Damit wurde das reine
Toleranzdenken, wie wir es vom aufgeklärten Absolutismus, von der
vorkonziliaren päpstlichen Lehre, aber beispielsweise auch aus der
islamischen Tradition kennen, überwunden.
Die katholische Kirche setzt
sich bedingungslos für die Garantie der Religionsfreiheit ein
Die Sicherung der Religionsfreiheit als
Menschenrecht ist ein zentrales Anliegen des gegenwärtigen Papstes
und der Heilige Stuhl setzt sich im Rahmen seiner Tätigkeit bei
internationalen Organisationen bedingungslos für die Garantie der
Religionsfreiheit ein. Es ist allerdings nicht zu verkennen, dass
hinsichtlich der Idee der Menschenrechte in kirchlichen Kreisen auch
wieder alte Vorbehalte aufkommen. Dahinter steckt die Befürchtung,
die Idee der Menschenrechte könnte sich in einer - wie man meint -
nicht adäquaten Weise auch in der Kirche ausbreiten.
Christliche Anthropologie muss
auch in der Kirche entfaltet werden
Ich möchte hier darauf hinweisen, dass das
Bekenntnis zu der mit der Menschenwürde verbundenen Freiheit, zu so
begründeten Menschenrechten im allgemeinen und der
Religionsfreiheit im besonderen nicht auf den staatlichweltlichen
Bereich reduziert bleiben darf. Es muss diese christliche
Anthropologie auch in der Kirche entfaltet werden, und die
kirchliche Ordnung muss ihr Rechnung tragen. Andernfalls entsteht
der fatale Eindruck, dass die Kirche zwar inzwischen emphatisch für
die Menschenrechte bzw. die Religionsfreiheit im weltlichen Bereich
eintritt, sobald es aber um die Gestaltung des inneren kirchlichen
Rechts geht, die Geltung von Grundrechten vielfach relativiert.
Kein Christ muss seine Freiheit
an der Kirchentüre abgeben
Es geht nicht an, dass der Christ seine Freiheit
an der Kirchentüre abgeben muss. Die in letzter Zeit wieder
stärker artikulierte Scheidung der Sphären - Freiheit und
Mitbestimmung in der weltlichen Ordnung, Unfreiheit, Gehorsam und
Fremdbestimmung in der kirchlichen Ordnung - lässt sich weder
theologisch begründen, noch verstärkt sie die Glaubwürdigkeit
kirchlicher Appelle.
Islam zeigt Toleranz gegenüber
Angehörigen der Buchreligionen
Aus seinem religiösen Selbstverständnis heraus
hat der Islam bekanntlich bereits seit seinen Anfängen wenigstens
gegenüber den Angehörigen der Buchreligionen eine tolerante
Haltung eingenommen. In den entsprechenden Versen des Korans wird
eine Entwicklung im Handeln Muhammeds deutlich, sein ursprünglicher
Optimismus, seine spätere Enttäuschung über Christen und Juden,
einzelne Ausfälle an Intoleranz sowie das abschließende Modell des
dhimmi-Vertrages.
In der Zeit unmittelbar nach
Mohammed ist bereits eine islamische Realität entstanden, die eben
von den konkreten Sitten der damaligen Araber mitgeprägt war. Diese
Realität wurde aber dann unter ausschließlich religiösen
Gesichtspunkten gedeutet und gilt vielen als der reale Inbegriff des
"islamischen Staates" (Zeit der vier rechtgeleiteten
Kalifen). Diese Phase der islamischen Geschichte könnte nun
durchaus als eine Zeit charakterisiert werden, in der
Glaubensüberzeugung vorbildlich gelebt wurde, ohne dass sie mit dem
"islamischen Staat" identifiziert wird.
Staat muss alle Bedingungen
erfüllen, um islamische Lebensführung zu ermöglichen
Falls man die Gemeinschaft der Gläubigen und den
Staat jedoch als wesensident ansieht, würde die religiöse
Autorität ihre Bedeutung als kritische Instanz, als kritisches
Korrektiv für die Politik verlieren. Sie würde einer
ideologisch-legitimierenden Instrumentalisierung und Manipulierung
verfallen. Der Staat, der daher gerade nicht der legitime Sprecher
der Gemeinschaft der Gläubige sein darf, darf eine bestimmte
Lebensführung nicht verpflichtend vorschreiben, und zwar weder für
Muslime noch für Nichtmuslime. Er soll und muss hingegen alle
Bedingungen erfüllen, die eine islamische Lebensführung seiner
Staatsbürger ermöglichen.
Moderner Verfassungsstaat muss
die Herausforderung annehmen
Für das Verhältnis des modernen
Verfassungsstaates zum Islam bedeutet dies andererseits aber auch:
Die Herausforderung, die u. a. durch den Islam und die zunehmende
Wahrscheinlichkeit, dass Muslime auch in Zukunft in größerer Zahl
unsere Mitbürger sein werden, für unsere Grundrechtsordnung
besteht, muss aufgenommen werden.
Chance: Multikulturelle
Integration der Muslime
Diese Situation ist auch als Chance zu sehen, auf
diese Weise unser politisches System zu einer gerechteren
Gesellschaft weiterzuentwickeln, in der nicht hinter allem, was
gewachsenen Traditionen widerspricht, Rechtsgutgefährdungen
gewittert werden dürfen. Das bedeutet, dass die Möglichkeit einer
multikulturellen Integration der Muslime nicht von vornherein
auszuschließen ist. Dass unser politisches System sich dadurch
notwendig weiter in eine Richtung bewegt, die gerade von vielen
islamistischen Muslimen, aber auch von Fundamentalisten aller
Richtungen als eine der Fehlentwicklungen Europas bezeichnet wird,
darf uns vom Ziel der Einlösung des Anspruches europäischer
neuzeitlicher politischer Ordnung nicht abhalten. Zu dieser
politischen Ordnung gehört es, dass es durch das religiöse
Empfinden anderer bestimmte Grenzen für die Ausübung von
Grundrechten gibt und dass der Staatbeispielsweise auch muslimischen
Kindern im Rahmen der Schulbuchaktion den Koran zur Verfügung
stellt. Zu den fundamentalen, vom Staat zu schützenden Grundrechten
gehört aber ebenso das Recht, seinem bisherigen Bekenntnis den
Rücken zu kehren.
Notwendigkeit zur Teilnahme an
einem säkularen pluralistisch-demokratisch ausgerichteten System
Über ein Problem, mit dem sich unsere
muslimischen Mitbürger, aber auch der Islam insgesamt
auseinandersetzen müssen, darf sich niemand hinwegtäuschen. Dieses
lautet: Wie wird der Islam mitgestaltende Kraft an einem säkularen
pluralistisch-demokratisch ausgerichteten politischen System, in dem
Religionsfreiheit einen konstitutionellen Grundstatus darstellt? Die
Chance zu einer derartigen theologischen Aufarbeitung darf dem Islam
nicht durch Ausgrenzung genommen werden. Er hat einen Anspruch
darauf, sein definiertes Selbstverständnis einzubringen. Ob der
Islam diese Möglichkeit nützt bzw. überhaupt von seinem
Selbstverständnis her nützen kann, ist Sache des Islams.
Artikel bearbeitet von ORF ON