Gedanken für den Tag

03. 07. 2006, 6.57 Uhr - 7.00 Uhr
im Programm Österreich 1

 

"Zum 50. Todestag von Gottfried Benn"

 

von Cornelius Hell, Literaturwissenschaftler und Feuilletonchef der "Furche"

 

 

Musik: Hans Petermandl/Klavier: "Interludium" von Paul Hindemith

 

 

 

 

 

Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch –:

Geht doch mit anderen Tieren um!

 

Der junge Dichter Gottfried Benn hat einen radikalen Blick auf den Menschen, vor dem jede religiöse oder humanistische Schönfärbung verblasst. Vor allem hat er einen mikroskopisch vergrößerten Blick auf die Hinfälligkeit des Körpers. Als junger Arzt musste Benn auch menschliche Leichen sezieren. Der Name des Leichenschauhauses war der Titel seines ersten Gedichtbandes: Morgue. 26 Jahre war Gottfried Benn alt, als die Sammlung im Jahr 1912 erschien.

 

Hier diese Reihe sind zerfressene Schöße

Und diese Reihe ist zerfallene Brust.

Bett stinkt bei Bett. Die Schwestern wechseln stündlich.

 

So beginnt das Gedicht „Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke“. Wenn ich es lese, sehe ich noch genau den Schulvormittag vor mir, an dem ich mit 17 Jahren zum ersten Mal  mit diesem Gedicht konfrontiert wurde. Der Schock hat mir für lange Zeit die Rede verschlagen. Gegen diesen kalten Blick auf das Sterben hilft keine Beschwichtigung.

 

Nicht nur die unmittelbare Erfahrung des Arztes spricht aus seinen ersten Gedichten. In dem grotesk übersteigerten Blick auf eine Wasserleiche etwa in einem Gedicht mit dem polemischen Titel „Schöne Jugend“ ist auch das barocke Vanitas-Motiv gegenwärtig: Alles ist vergeblich. Aber hinter dieser Warnung steht keine religiöse Zuversicht mehr.

 

Im Jahr 1912 ist Gottfried Benns eigene Mutter an Brustkrebs gestorben. Die Diagnose wurde zu spät gestellt, zwei Operationen hatte sie hinter sich, die Krankheit ließ sich nicht aufhalten. Als Arzt wusste Gottfried Benn: gegen die quälenden Schmerzen hilft nur mehr Morphium. Aber sein Vater, ein strenggläubiger protestantischer Pastor, verbot das – die Schmerzen seien gottgewollt. Ohnmächtig musste Gottfried Benn zusehen, wie die Mutter unter Qualen starb. Ein starker Grund, warum er Zeit seines Lebens nichts mit herkömmlicher Religion zu tun haben wollte.