Gedanken für den Tag

30. 03. 2009,  6.57 Uhr - 7.00 Uhr
im Programm Österreich 1

 

"Ostern in der Literatur"

 

von Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer

 

 

Musik: Modern String Quartet: "In a sentimental mood" von Duke Ellington

 

 

 

 

 

Ostern steht wieder einmal vor der Tür: Schriftsteller können sich bis in die Gegenwart diesem Fest und seiner Aura nicht entziehen. „Auferstehung“ ist eine faszinierende Vorstellung – und ein interessantes Wort. Die verstorbene deutsche Lyrikerin Marie Luise Kaschnitz hat ihm ein Gedicht gewidmet.

 

Manchmal stehen wir auf

Stehen zur Auferstehung auf

Mitten am Tage

Mit unserem lebendigem Haar

Mit unserer atmenden Haut

 

Nur das Gewohnte ist um uns.

Keine Fata Morgana von Palmen

Mit weidenden Löwen

Und sanften Wölfen.

 

Die Weckuhren hören nicht auf zu ticken

Ihre Leuchtzeiger löschen nicht aus.

Und dennoch leicht

Und dennoch unverwundbar

Geordnet in geheimnisvolle Ordnung

Vorweggenommen in ein Haus aus Licht.

 

Das Gedicht „Auferstehung“ von Marie Luise Kaschnitz zeigt, welche Dynamik dieses Wort auch außerhalb seines gewohnten religiösen Kontextes hat. Man muss nicht gleich an Jesus denken oder an die Auferstehung der Toten am Ende der Zeiten, um von Auferstehung fasziniert zu sein. Ganz nahe liegen die Wörter „aufstehen“ und „auferstehen“ sprachlich beieinander. Das Gedicht nimmt das ernst und sagt: Auferstehen ist an den banalsten Alltagen möglich, wenn der Wecker läutet wie an jedem anderen Tag auch. Und es gibt die Auferstehung nicht erst nach dem Tod, sondern mitten im Leben. Dennoch ist diese Auferstehung nichts Alltägliches, sondern sie geschieht nur „manchmal“, in besonderen Augenblicken. Da leuchtet dann mitten im Alltag und abseits von Kirche und religiösen Riten etwas Sakrales auf, ein „Haus aus Licht“, wie es am Ende des Gedichtes heißt. Ich mag dieses Gedicht seit vielen Jahren, weil es mir das gute alte Osterfest zum Kompass macht, der mir zeigt, ob ich in den Banalitäten des Alltags versacke oder noch offen bin für ein Wunder.

 

 

Buch:

 

Christian Büttrich/Norbert Miller (Hg.) "Marie Luise Kaschnitz. Gesammelte Gedichte Bd. 5", Insel Verlag