Gedanken für den Tag

09. 05. 2011,  6.57 Uhr - 7.00 Uhr
im Programm Österreich 1

 

"Man möchte gehört werden" - Zum 100. Geburtstag von Max Frisch

 

von Klara Obermüller, Schweizer Journalistin und Schriftstellerin

 

 

Musik: NÖ Tonkünstlerorchester unter der Leitung von Alfred Eschwe: "Sinfonia zu 'Andorra'" von Leopold Schmetterer

 

 

 

 

 

Du sollst dir kein Bildnis machen, heißt es, von Gott. Es dürfte auch in diesem Sinne gelten: Gott als das Lebendige in jedem Menschen, das, was nicht erfassbar ist. Es ist eine Versündigung, die wir, so wie sie an uns begangen wird, fast ohne Unterlass wieder begehen – ausgenommen wenn wir lieben.“ (Max Frisch: „Tagebuch 1946-1949“)

 

Max Frisch ist nie als besonders religiös aufgefallen. Aber wenn es um das Lebendige im Menschen ging, um die unendliche Vielfalt seiner Möglichkeiten, um das, was wandelbar, was veränderbar ist an ihm, dann legte er seine Zurückhaltung ab. Dann wollte er gehört werden. „Du sollst dir kein Bildnis machen“, das zweite der „Zehn Gebote“, war für ihn so etwas wie ein Glaubensbekenntnis: Das einzige vielleicht, das er ein Leben lang hoch hielt. Doch im Unterschied zur Bibel bezog er das Bildnisverbot nicht auf Gott, sondern auf den Menschen. „Sich ein Bildnis machen“ bedeutet für Max Frisch: Einem Menschen das eigene Urteil aufdrängen, ihm sagen, was und wie er sei und zu sein habe, jetzt und für alle Zeiten. „Sich ein Bildnis machen“ bedeutet: Dem Menschen die Möglichkeit nehmen, lebendig zu bleiben, sich zu entfalten, sich zu wandeln. Es heißt: Ihm die Freiheit absprechen, ein anderer zu werden. Diese Zuschreibung von außen, dieses Festlegen des Lebendigen und Unfassbaren am Menschen hat Max Frisch in seinem Tagebuch als eine Versündigung bezeichnet – ein starkes Wort, wenn man bedenkt, dass der Autor religiöse Begriffe sonst eher mied. Doch er brauchte es, um auszudrücken, wie ernst es ihm war – nicht zuletzt auch, weil er sich selbst nicht ausnehmen konnte. Auch er machte sich ein Bildnis, auch er verging sich an andern, wie diese sich an ihm vergingen. Wir tun es, heißt es im Tagebuch, „fast ohne Unterlass – ausgenommen wenn wir lieben“. Dann und nur dann, so Frisch, sind wir frei, einander zu nehmen, wie wir sind.