13. 05. 2011, 6.57 Uhr - 7.00 Uhr
im Programm Österreich 1
"Man möchte gehört werden" - Zum 100.
Geburtstag von Max Frisch
von Klara Obermüller, Schweizer Journalistin und
Schriftstellerin
Musik: NÖ Tonkünstlerorchester unter der Leitung von Alfred
Eschwe: "Sinfonia zu 'Andorra'" von Leopold Schmetterer
„Voraussetzung
der Toleranz (sofern es sie geben kann) ist das Bewusstsein, das
kaum erträgliche, dass unser Denken stets ein bedingtes ist.“ (Max
Frisch: „Tagebuch 1946-1949“)
Als Max Frisch
diesen Gedanken zu Papier brachte, Ende der vierziger Jahre des
letzten Jahrhunderts, da wusste er noch nichts vom religiösen
Fundamentalismus unserer Tage. Was er aber sehr wohl kannte, war die
rechtsradikale Gesinnung der Nationalsozialisten in Deutschland und
ihrer Sympathisanten im eigenen Land. Ihnen gegenüber konnte es
keine Toleranz geben, das war auch dem jungen Max Frisch sehr bald
klar geworden. Wie aber stand es grundsätzlich mit Andersdenkenden,
zum Beispiel in der Politik? Toleranz üben, die Meinung des andern
gelten lassen, das klingt schön und sagt sich leicht. Dass es aber
auch bedeutet, die eigene Überzeugung in Zweifel zu ziehen, weil der
andere ja vielleicht recht haben könnte – das stellt unser
Bewusstsein auf eine harte Probe. „Kaum erträglich“ nennt es Frisch,
weil es heißt, dass es überhaupt keine letzten, unumstößlichen
Wahrheiten mehr geben kann. Max Frisch mag als junger Mensch
darunter gelitten haben. Später entwickelte er daraus seine eigene
Poetik. Ähnlich wie Bert Brecht sah auch er sich als einer, der
Fragen stellt und Gewissheiten anzweifelt. Seine Aufgabe als Autor
sei erfüllt, sagte er einmal, wenn die Leser ohne eine Antwort auf
seine Fragen nicht mehr leben könnten. Dabei interessierte ihn die
Frage mehr als die Antwort, das Suchen mehr als das Finden.
Endgültiges, ein für allemal Gesichertes und Festgeschriebenes, war
ihm grundsätzlich zuwider. Das Bewusstsein, „dass unser Denken stets
ein bedingtes“ ist, mag schwer erträglich sein. Für Max Frisch war
es nicht nur die Voraussetzung von Toleranz; es war die einzige
Haltung, die er als Intellektueller überhaupt für angebracht hielt.